Mein Zürich ist gar nicht so teuer

Zürich ist jetzt die teuerste Stadt der Welt. Es hat Tokyo überholt und liegt vor europäischen Städten wie (Genf) Oslo, Paris, London. Die entsprechende Studie kommt von der englischen „Economist Intelligence Unit“. Sie untersucht anhand von 160 Konsumartikeln und Dienstleistungen regelmässig und global Lebenshaltungskosten.

            Der Mensch, der in Zürich wohnt, arbeitet, verkehrt, fragt sich aufgrund der gestrigenZeitungsmeldung: Ist das ein Problem? Es klingt jedenfalls bedrohlich, es klingt nach Budgetstress und dräuender Armut.

            Doch eigentlich muss den Habitué die Nachricht nur bedingt kümmern. Die Studie geht von einem „expatriate lifestyle“ aus. Gemeint ist die Lebensart derer, die neu und fremd in der Stadt sind. Wo kehren diese Leute ein, wenn sie Kaffee trinken wollen? Bei „Sprüngli“ am Paradeplatz. Den Namen haben sie irgendwo gelesen.

Es lebe das „Marabu“

Hier wird die Sache nun persönlich. Denn wer mich fragt, dem sage ich: Den allerbesten Kaffee im grossen Zürich gibt es im kleinen „Marabu“ an der Werdstrasse. Sommers wiederum, wenn ich Voyeur spielen und Passanten gucken will, treibt es mich ins Café vor dem Bahnhof Wiedikon, dessen Platz Weite hat und Grosszügigkeit, dort wird mir nie eng. Meine Bratwurst nehme ich am liebsten im tiefen Milieu, im Kreis vier gegenüber der „Sonne“. Spass bereitet mir das Wühlen in einem der  Grabbelläden an der Langstrasse, wo brauchbare KLeider und textiles Grauen sich Mischen. Suche ich wieder einmal ein Buch über Zwingli, so ist die Chance gut, dass ich es unter den Turicensia im „Bücher-Brocky“ beim Bahnhof Enge finde.

Die lauwarme Zuckerschnecke

Und zum Flanieren gehe ich sicher nicht an die Seepromenade, wo mich die Menschenmassen trübsinnig machen. Sondern ich spaziere zum steinernen Elefanten im Stöckentobel-Bach und besteige hernach den Aussichtsturm auf dem Loorenkopf mit toller Aussicht auf den Zürichsee und den Greifensee. Das ist gratis, wohingegen die kleine Coupe Dänemark im nahen Waldrestaurant „Degenried“ zwar kostet, aber doch wohlfeil ist.

            Und apropos Süsses: Luxemburgerli mag ich. Aber noch mehr mag ich, und das schon frühmorgens um sieben, im Backcafé „Tiefenbrunnen“ die bisweilen noch lauwarmen Zuckerschnecken im Aluförmli.

            So findet in Zürich jeder seine eigene Freuden und Genüsse zu ganz verschiedenen Preisen. 95 von 100 Uetliberg-Besuchern kehren im „Kulm“, im „Staffel“, im Restaurant „Bei der Bahn“ ein. Fünf gehen in den aparten „Jurablick“ und haben ihre Ruhe. Dann pilgern sie zum Keltengrab; Zürich hat eine tiefe, rätselvolle Geschichte.

Straftarife für den Expat

Freund Alain zahlt bei seinem Coiffeur im Niederdorf 28 Franken für seinen Haarschnitt. Aber natürlich will dieser Coiffeur zuerst entdeckt sein. Der Expat wird dafür, dass er ein Fremder ist, mit einem Straftarif belegt. „Irre, die Preise in Zu-reich“, twittert der aus Leipzig zugezogene Psychiatriepfleger in die Welt, nachdem er bei „Felix“ am Bellevue gebruncht hat.

            Doch hat auch der geplagte Stadtneuling die Chance, sein persönliches Zürich zu finden und zu erfinden; er wird das mit etwas Geduld schaffen. Oder aber mit folgendem Deal, lieber Expat: Ich verrate dir noch mehr über mein Zürich. Dafür sagst du mir, was ich in deiner Stadt, in Berlin, London oder Paris, kennen muss.

Thomas Widmer in TA, 15.02.2012