Gabriel Narutowicz – Wissenschaftler und Politiker, Pole und Schweizer

Lebenslauf – vom 15.Oktober 1907 – eigenhändig,

Hochgeehrter Herr Präsident (Dr. R. Gnehm Präsident des Schweizerischen Schulrates)

Ihrer Einladung Folge leistend, teile ich Ihnen in kurzen Worten meinen Lebenslauf mit

Ich bin am 17ten März 1865 als Pole in Telsche (Gouvernement Kowno, Rusisch-Polen)

geboren. Mein 1866 verstorbener Vater war Grundbesitzer, meine Mutter lebt in Polen.

Von 1875 bis 1883 besuchte ich das deutsche humanistische Gymnasium in Libau

(Russland), wo ich meine Maturit.tsprüfung ablegte. Im Jahre 1884 ging ich nach

Petersburg und studierte Mathematik und Physik an der dortigen Universität Im Sommer

1886 musste ich jedoch Petersburg verlassen, da ich mir in Folge des rauhen Klimas eine

Erkrankung der Lunge zugezogen hatte. Die Ärzte schickten mich nach der Schweiz, nach

Davos; ich wollte jedoch meine Zeit nicht verlieren und trat im Herbst 1886 in die

Ingenieurabteilung des Polytechnikums in Zürich ein. Ich musste aber doch noch in Davos

Heilung suchen und konnte dann, vollständig wiederhergestellt, im Wintersemester

1887/88 meine Studien am Polytechnikum wieder aufnehmen. Ich beendigte dieselben im

Frühjahr 1891 und erhielt das Diplom als Ingenieur.

Meine erste praktische Ausbildung erhielt ich während der Ferien im Jahre 1889 auf dem

Bureau für das Bahnprojekt St. Gallen – ZUg angestellt und mit topographischen

Aufnahmen, Absteckungs- und Projektierungsarbeiten beschäftigt. Dieses Bureau wurde

im Sommer 1892 aufgehoben und ich trat in das Baubureau für Wasserversorgung und

Kanalisation der Stadt St Gallen ein, wo ich bis zum Frühjahr 1895 verblieb. In dieser

Stellung hatte ich städtische Strassen- und Kanalisationsbauten zu projektieren und

auszuführen, war als Bauführer bei der Steinachüberw.lbung tätig und arbeitete an der

Wasserversorgung der Stadt St. Gallen aus dem Bodensee mit. Vom 1ten Mai 1895 bis

zum 1ten November 1895 war ich als Ingenieur der St. Gallischen Rheinkorrektion beim

Bau des rheintalischen Binnenkanals (Bahnverlegung Monstein, Kanalaushub,

Baggerarbeiten, provisorische und stationäre hölzerne Brücken beschäftigt. Am 4ten

November 1895 folgte ich dem Ruf des Herrn Ingenieur Kürsteiner in St Gallen und trat als

Ingenieur in sein Bureau ein. Ich avancierte bald zum Bureauchef und am 1ten Januar

1904 nahm mich Herr Kürsteiner als Teilhaber seines Bureau auf, das wir seither

gemeinschaftlich unter der Firma Ingenieurbureau Kürsteiner weiterführen. Während

meiner nun 12-jährigen Tätigkeit auf diesem Bureau habe ich viele und mannigfaltige

Arbeiten auf dem Gebiete des Strassen-, Brücken-, Eisenbahn- und namentlich des

Wasserbaues (Wildbachverbauungen, Wasserversorgung, Kanalisation,

Wasserkraftanlagen) in der Schweiz und den Nachbarländern projektiert und ausgeführt.

Ich bin verheiratet und habe einen 5-jährigen Sohn.

Seit 1895 bin ich Schweizer Bürger, heimatberechtigt in der Gemeinde Untereggen,

Kanton St. Gallen. Aus dem russischen Staatsverband bin ich in aller Form mit kaiserlichem

Reskript vom 10 Juli. 1905 entlassen worden. In militärischer Hinsicht bin ich dem

unbewaffneten Landsturm des Kantons St. Gallen zugeteilt.

Ich bin, falls Sie wünschen, gerne bereit, Ihnen mit jeder weiteren Auskunft, und

auch Referenzen und Zeugnissen zu dienen und zeichne

mit vorzüglicher Hochachtung

(-) Gabriel Narutowicz