(Artikel „Die Pionierin, die alle überstrahlte“ / André Behr – TA, 1.10.2011)
Die Pionierin, die alle überstrahlte
Marie Curie entdeckte, dass gewisse Elemente radioaktiv strahlen. Ihr zweiter Nobelpreis vor 100 Jahren machte die Physikerin zur Ikone.
Am 8. November 1911, einen Tag nach ihrem 44. Geburtstag, erhielt Marie Curie in Paris ein Telegramm aus Stockholm mit der Botschaft: „Nobelpreis für Chemie Ihnen zugesprochen. Brief folgt.“ Die Ankündigung zum zweiten Mal mit dieser höchsten Auszeichnung geehrt zu werden, weckte Hoffnung. Sie kam zu einer Zeit, als Marie Curie eine schwermütige Phase durchlitt.
Nachdem ihr die Pariser Akademie als Frau die Aufnahme verweigert hatte, war sie nun Ziel einer Hetzkampagne geworden. Die Medien kritisierten ihre Affäre mit dem Physiker Paul Langevin, der nicht nur jünger als sie, sondern auch verheiratet und ein Schüler ihres 1906 von einer Kutsche überfahrenen Mannes Pierre Curie war. Und man beschimpfte sie als Jüdin und kolportierte die Vorwürfe, sie schmücke sich mit den wissenschaftlichen Federn ihres Gatten.
Entnervt und gesundheitlich geschwächt reiste Marie Curie mit ihrer Lieblingsschwester Bronia und Tochter Irène nach Schweden, um am 11. Dezember 1911 in ihrem Vortrag zumindest in Bezug auf ihre wissenschaftliche Leistung Klartext zu reden. Die erst 14-jährige Irène, die später die Forschungen ihrer Eltern fortsetzte und 1935 ebenfalls mit dem Chemie-Nobelpreis geehrt wurde, konnte hören, wie ihre berühmte Mutter „ich“ sagte, wo es hingehörte.
Die Entdeckungen des chemischen Elements Radium, für die sie geehrt werde, sei von entscheidender Bedeutung für die Grundlagenforschung gewesen, sagte Marie Curie unter anderem. Damit habe sich ihre Hypothese bestätigt, dass das von ihr mit „Radioaktivität“ bezeichnete Phänomen physikalisch von Bedeutung sei. Danach reiste die Curies zurück nach Paris, doch in jenen Jahren, schrieb Marie Curie jüngere Tochter Ève in ihrer Biografie (es ist wohl die beste über Curie) von 1952, sei die Mutter am Rand des Selbstmords gestanden.
Lebensgefährliche Laborarbeit
Erst im Herbst 1912 konnte Marie Curie ihre Arbeit wieder aufnehmen. Eine Nierenoperation war erfolgreich verlaufen, und das Ausland überhäufte sie mit Ehrungen und Einladungen. Warschau versuchte vergeblich, sie als Leiterin des neuen Radium-Instituts zu gewinnen. Mit dem ihr freundschaftlich verbundenen Albert Einstein spazierte sie einige Tage durch das Engadin, und die Beziehungen zur Leitung ihrer eigenen Universität Sorbonne – wo ihr, als erster Frau überhaupt, eine Professur eingerichtet worden war – hatten sich normalisiert. Auch der Bau des noch mit Pierre Curie geplanten eigenen Instituts kam endlich voran, ihre Studenten wollten betreut und ihre Töchter unterrichtet und versorgt sein.
Um all diese Dinge kümmerte sich Marie Curie neben ihrer Forschungsarbeit allein. Einmal, erzählt Ève, habe sie ihre Mutter spätabends in der Stube ohnmächtig niedersinken sehen, die Finger starr, die Hände geschunden vom jahrelangen Umgang mit radioaktiven Substanzen. Die Curies hatten vermutet, dass ihre Laborarbeit gesundheitliche Risiken barg. Doch wie radioaktive Strahlung auf lebenden Organismen wirkt, war in der Pionierzeiten der Radiochemie unbekannt. Am Ende bezahlten Marie und Irène Curie für ihre Forschung mit dem Leben: Marie starb 1934 an perniziöser Anämie, einer Form von Blutarmut, Irène 1956 an Leukämie.
Immer eine der Besten
Trotz aller Schicksalsschläge seit der frühen Kindheit hat Marie Curie nie geklagt. Hochbegabt und als jüngste von fünf Kinder des Lehrer-Ehepaars Sklodowski wuchs sie auf in Warschau, das unter der Fuchtel der russischen Fremdherrschaft litt. Als sie sechs war, starb ihre Schwester Sofia an Typhus, vier Jahre später ihre Mutter an Tuberkulose. Mit 15 schaffte sie als Klassenbeste die Maturität; später arbeitete sie als Gouvernante, damit sie ihrer zwei Jahre älteren Schwester Bronia Geld für das Medizinstudium nach Paris schicken konnte. In ihrer spärlichen Freizeit vertiefte sie sich in Mathematik und Physik.
Erst mit 23 erhielt sie die Möglichkeit Erfahrung im Experimentieren zu sammeln, doch dann verbesserten sich ihre Aussichten sehr schnell. Sie zog zu Bronia nach Paris, schrieb sich an der Sorbonne ein, wo Frauen zum Studium bereits zugelassen waren, erwarb 1893 das Lizentiat in Physik, 1894 dasjenige in Mathematik und bestand 1896 auch die Lehramtsprüfung, bis auf die Mathematik immer als Beste. Dazwischen hatte sie ebenso brillanten Physiker Pierre Curie kennen gelernt, zusammen mit ihm in seinem Labor gearbeitet und ihn 1895 geheiratet.
Mit Intuition zum Erfolg
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand die Untersuchung der 1893 entdeckten Röntgenstrahlen – für Menschen nicht wahrnehmbares, sehr kurzwelliges Licht, dank dem man mittels Röntgenapparaten bald verborgene Strukturen sichtbar machen konnte. Auf der Suche nach einem Dissertationsthema wählte Marie Curie einen anderen Weg. Sie folgte ihrer Intuition und nahm sich den sogenannten Becquerelstrahlen an.
Henri Becquerel hatte sie 1896 zufällig entdeckt, aber nicht als neues physikalisches Phänomen erkannt. Weil sich Pierre Curie ebenfalls für das Thema begeisterte und sein experimentelles Knowhow einbrachte, konnte das Paar schnell brisante Thesen präsentieren: Die Strahlung war eine Eigenschaft gewisser Atome, von denen eines ein neu entdecktes Element war. Die Curies tauften es zu Ehren von Maries Heimat Polonium. Wenige Monate später war mit Radium ein zweites radioaktiv strahlendes Element identifiziert, worauf Pierre sich mehr auf die Physik dieses Phänomens konzentrierte und Marie auf die chemische Isolierung des Radiums.
Die Entdeckungen brachten beiden Curies sowie Becquerel 1903 den Nobelpreis für Physik ein, allerdings erst als Pierre darauf bestand, dass der Preis nicht nur an die beiden Männer ging. Marie Curie wurde weltweit Vorbild für Frauen, die wie sie in den von Männern dominierten Disziplinen um Anerkennung kämpften (und kämpfen). Und nur wenige Jahre nach der Entdeckung der Radioaktivität arbeiteten die besten Köpfe der zeit an der Einordnung der Strahlungsphänomene, der Umwandlung der Elemente, der Struktur der Materie und der Kernspaltung – mit den bekannten Folgen für Technik, Medizin und Zivilisation.