Nachdem sie den Nobelpreis erhalten und ihre Stockholmer Vorlesung den Wörtern „Ich weiss nicht“ gewidmet hatte, stand Wislawa Szymborska eine Zeit lang schweigend in dem Weltruhm, der sie fortan umgab. Dann erschien ihr Gedichtband „Chwila“ (2002, deutsch „Der Augenblick“). Der Titel war das Schlüsselwort für ihr gesamtes Werk. „Chwila“ wurde in Polen zu einem Bestseller. Da war sie schon längst in die Schulbücher eingegangen und spielte damit, wenn sie von Schulbücher schrieb, „in denen der Wind blättert“.

1923 geboren, war sie bei den Ursulinerinnen in die Schule gegangen, in Krakau, wo sie seit 1931 lebte. Das 1945 aufgenommene Studium an der Jagiellonen-Universität beendete sie nicht. Von ihrer Nähe zum Journalismus in der Nachkriegszeit blieb ihr das wache Interesse an der Aktualität und der technischen Modernität, an Statistik und Experiment. Von ihrer zeitweiligen Nähe zum Aufbruchspathos des Sozialismus war nichts geblieben, als sie 1966 aus der Partei austrat und später, in den Zeiten des Kriegsrechts, in Untergrundzeitschriften publizierte. Sie hat es immer abgelehnt, wenn jemand versuchte, ihre Biografie zu einem Schlüssel für ihre Gedichte zu machen. Aber dieser Diskretion im Umgang mit dem, was sie „die äusseren Umstände“ nannte, stand ihre so nachdrückliche wie aufdringliche Neigung gegenüber, als Autorin immer wieder in ihren Gedichten spürbar anwesend zu sein, nicht nur als „lyrisches Ich“ – sondern als die, die schreibt.

Antike Affinität


Ihre biografische Wurzeln waren unzweifelhaft polnisch, aber als Autorin wuchs sie zugleich aus dem anderen Land heraus, das die polnische Literatur nicht anders als die deutsche seit Jahrhunderten bevölkert: Griechenland. Mit Czeslaw Milosz und mit Zbigniew Herbert teilte sie die Neigung zum Wechselspiel von Worten und Gedanken,zur Einbeziehung philosophischer Begriffe in den Stoffkreis der Poesie.

Ihr Griechenland allerdings liegt jenseits der platonischen Welt, es ist der Vorsokratiker, in dem Achill mit der Schildkröte um die Wette läuft und die Zahl Pi (Korr.)  nicht an ihr Ende kommen mag. Die Augenblicke aber, die sie ausmisst, sind die unzweifelhaft moderner Zeiterfahrung. Ihre Gedichte suchen mindestens so sehr die Nähe zur Fotografie wie zur Philosophie.

Eines ihrer späten beginnt so: 

„Eigentlich könnte jedes Gedicht

„Augenblick“ heissen.

Eine Phrase genügt

im Präsens

im Perfekt und sogar im Futur;

es genügt, dass irgendetwas

von Wörtern Getragenes

raschelt, aufblitzt,

vorbeifliesst

oder die vermeintliche Unveränderlichkeit bewahrt,

aber mit beweglichen Schatten…..“

In Versen wie diesen bestätigte sie ihren Ruf, ihre Poesie sei mit den Gedanken im Bunde. Aber dieser Ruf erfasst nur die eine Seite ihres Werks. Die andere Seite ist situativ und bildlich statt logisch und begrifflich. Hier verdichtet sich die Paradoxie der Zeit im hochmodernen riskanten Augenblick, in der Schrecksekunde der plötzlichen Katastrophe, des Unfalls.

Wegen dieser Fähigkeit, Schrecksekunden zu bewahren, verdanken wir Wislawa Szymborska bleibende Nachbilder der modernen Einheit von Augenblick und Attentat. In „Die grosse Zahl“ (1976) gab es das Gedicht „Der Terrorist, er schaut zu“, das Verrinnen der Minuten vor dem Zeitpunkt der Zündung einer Bombe in einer Bar. Und in „Der Augenblick“ (2002) gingen unter dem Titel „Fotografie vom 11. September“ die Menschen, die aus den Türmen sprangen und fotografiert wurden, in das Gedicht ein: 

„…Nur zwei Dinge kann ich für sie tun –

diesen Flug beschreiben

und den letzten Satz nicht hinzufügen.“


Das Gedicht

Grabstein

Hier ruht, altmodisch wie das Komma,

eine Verfasserin von ein paar Versen. 

Die Gebeine geniessen

Frieden in den ewigen Gärten, obwohl

sie keiner Literatengruppe angehörten.

Drum schmückt nichts Besseres ihre Totenstätte

als dieser Reim, die Eule und die Klette.

Passant, hol den Computer aus dem Aktenfach

und denk über Szymborskas Los ein wenig nach

(Gedichtband „Salz“ – 1962)