Ulrich Krökel – TA, Montag 14.121.2011

Das Gelobte Land der Polen – ist – Polen.

Mateusz Lipczynski hat viel von der Welt gesehen. Mehrere Jahren lang arbeitete er als Software-Entwickler in Süddeutschland und in der Schweiz. Später verschlug es ihn über London nach Neuseeland. Eines aber weiss der 34-jährige inzwischen genau: Er möchte nie wieder dauerhaft am einem anderen Ort leben als in seiner polnischen Heimat. „Hier habe ich meine Familie, meine Freunde und meine Sprache“, sagt der junge Mann.
Lipczynski ist so etwas wie ein Idealtypus. Er ist der Mann, den sich Arbeitgeber in der Schweiz und in Deutschland ebenso sehr wünschen wie polnische Unternehmer. Der sprachgewandte Informatiker ist hoch qualifiziert. Er ist gebildet, engagiert und weltoffen, aber auch bescheiden und sozial fest verwurzelt. Doch der Traummann westlicher Personalchefs sagt unmissverständlich: „Auswandern ist für mich keine Option mehr.“ In der Schweiz sei es zweifellos alles besser organisiert als in Polen. „Aber es lebt sich gut in Danzig, und ich bin froh, dass meine einjährige Tochter nicht in  der Fremde aufwachsen muss.“
Wer mir Mateusz Lipczynski spricht, für den relativiert sich schnell, was seit Monaten über die Öffnung des Arbeitsmarktes für osteuropäische EU-Bürger zu hören ist, die am 1. Mai erfolgt ist. Die Lockrufe des Westens finden längst nicht bei allen Menschen Gehör, wie dies mancher Konservativer weismachen möchte. Die Schweiz gilt ebenso wenig als das Gelobte Land wie die Nachbarstaaten Österreich und Deutschland, die ihren Arbeitsmarkt vor einem halben Jahr ebenfalls für die EU-8 geöffnet haben, also für die Länder Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn.

Fachleute dringend gesucht
Natürlich gibt es Fakten, die nicht wegzudiskutieren sind. In der Schweiz ist die Zahl der Bewilligungen an Erwerbstätige aus den EU-8-Staaten im Jahresvergleich sprunghaft angestiegen – im Mai um 710 Prozent, im Juni um 340 Prozent, im Juli und August noch immer um 270 Prozent. Allerdings sind die absoluten Zahlen, die sich nun bei monatlich rund 600 Zuwanderern eingependelt haben, überschaubar.
In Deutschland sind sogar alle Prognosen weit untertroffen worden. Dort kamen in den ersten vier Monaten der Freizügigkeit nicht einmal 15 000 Personen mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres – das war weniger als die Hälfte dessen, was Experten erwartet haben. Bei Unternehmern nördlich der Alpen macht sich Enttäuschung breit. Die deutsche Wirtschaft sucht dringend  Fachkräfte. Die Hoffnung war deshalb gross, dass diese Hochqualifizierten nach der Öffnung des Arbeitsmarktes endlich aus dem Osten kommen würden. Das war aber ein Irrtum.
Warum das so ist, zeigt das Beispiel von Mateusz Lipczynski. Der 34-jährige arbeitete zwischen 2001 und 2006 als Informatiker in Schwarzwald und später in Aargau. Doch dann  kehrte er nach Polen zurück. „Meine Heimat hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert“, sagt er und verweist auf „die eleganten Läden“, die es inzwischen gebe. Und er fügt hinzu: Angesichts der geringeren Lebenshaltungskosten und des günstigeren Steuerniveaus habe er in Danzig am Monatsende genauso viel Geld auf dem Konto wie im Westen.

Lehren für die Schweiz
Schlussfolgern lässt sich aus all dem, dass die intensivste Zeit der Emigration aus Osteuropa wohl vorbei ist. Wer aus Polen, den baltischen Staaten oder Ungarn wegziehen wollte, sagen Fachleute, sei längst nach Grossbritannien oder Skandinavien ausgewandert. Dort hatten sich die Schranken für EU-8-Zuwanderer bereits 2004 gehoben. Diese polnischen Zahlen machen auch deutlich, dass die Schweiz weiter auf Kontingente verzichten kann; denn diese sind gar nicht nötig.
Mateusz Lipczynski, so sagt er selbst, hat zwar „gerne in der Schweiz gelebt“. Die Menschen dort seien gastfreundlicher als in Deutschland, wo noch immer das Klischee vom faulen Polen vorherrsche. Will sich die Schweiz diese Willkommenskultur bewahren, sollte sie Menschen wie Lipczynski zu halten versuchen statt bloss über neue Abschreckungsmechanismen nachzudenken.